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Objects in the rear view mirror…

23. April 2016 |
befreiend?

Der Umgang mit der Geschichte ist kein leichter.

Das wird mir wieder einmal bewusst, als ich aus dem Kino komme. „Son of Saul“ haben wir gesehen, vorgestellt vom Sohne Cottbus´ und „unserem“ Ocar-Preisträger Urs Rechn. Die Kamera klebt an einem ungarischen Zwangsarbeiter im KZ. Stoisch bereiten er und weitere Gefangene den Genozid in der Gaskammer vor – um der selbigen zu entgehen. Heftige Bilder von Leichenbergen und Elend. So heftig, dass man nach gut 20 Minuten emotional abgestumpft ist und einen die Exekutionen, toten Kinder, Öfen, Asche nicht mehr jucken. Bald schaut man genau so regungslos auf die Leinwand wie der Hauptdarsteller zu einem herunter. Schon lange hat mich kein Film mehr so bewegt.

getretene Vergangenheit

Am Samstagmorgen mache ich mich dann auf einen Spaziergang durch die Stadt. Das Kind im Tragegurt, der Hund an der Leine; KCaffè Americano holen und die Sonne genießen. Der Holocaust ist mittlerweile schon so verblasst wie die unscharfen Bilder aus dem Film. Auf dem Altmarkt hat sich eine Gruppe Menschen eingefunden. Weil ich einige von ihnen kenne, frage ich, was los ist. Martin von Cottbus Nazifrei klärt mich auf. „Wir machen eine Art Schnitzeljagd anlässlich des Tages der Befreiung, der gestern war.“ Aha. Martin hat eine App auf dem Tablet, die uns den Weg weist.

Stadtrundgang

Wir bilden eine kleine Gruppe und machen uns auf. Unsere erste Aufgabe: Geht zum Rathaus und sucht auf dem Weg dorthin nach „Stolpersteinen“. Das sind in den Boden eingelassene, kleine Gedenktafeln, die vor Wohnhäusern an Deportierte erinnern, die dort einmal lebten. 45 davon gibt es in ganz Cottbus. Es wurden natürlich noch mehr Juden und andere Nicht-Erwünschte damals weggeschafft. Wahrscheinlich könnte man ganze Straßen damit pflastern. Aber 45 müssen erst einmal reichen. Während wir auf dem Cottbuser „Walk of Fame“ stehen – große in den Boden eingelassene Medaillen erfolgreicher Cottbuser Olympioniken – liest Martin vor. Er erzählt von Henricus Haltenhoff, dem Cottbuser Bürgermeister zu NS-Zeiten. Wie er die Spremberger Straße zu einer „deutschen Einkaufsstraße“ machen wollte und bis (viel zu) lange nach dem Krieg noch Bürgermeister in Hannover war. Wir beantworten einige Quizfragen, die uns die App stellt („Wie lautet das sorbische Wort für Rathaus?“) und diskutieren angeregt über die damaligen Möglichkeiten, wirklich alle Alt-Nazis loszuwerden, was ja offensichtlich nicht gelang. Unsere Diskussion kommt plötzlich in der Gegenwart an. Wir sollen ein Foto vom Stadthallenvorplatz schießen, wo erst vor Kurzem ein Schwarzafrikaner angegriffen wurde.

Synagoge

Verdammt! Wieder Nazis, wieder Gewalt und mir wird klar, dass wohl jede Stadt in Deutschland ihr NS-Päckchen zu tragen hat. Nicht nur Berlin und Nürnberg waren damals dabei- auch diese Stadt hier. Alte Straßen, alte Menschen, viel Geschichte. Auch schmerzhafte Geschichte. Uschi, ältestes Mitglied unserer Gruppe erzählt uns von ihren Wurzeln. Die Eltern sind aus Schlesien geflohen und bauten sich zu DDR-Zeiten mit nur wenigen Sack Zement ein Haus und eine Existenz auf. Welche Not sie in der Zeit dazwischen litten erzählt die Tochter lieber nur in kurzen Anekdoten.
Wir arbeiten uns durch die Innenstadt und wo wir auf „Stolpersteine“ treffen, reinigen wir sie mit mitgebrachten Lappen und Polierpaste. Ich weiß jetzt, wo die Synagoge in Cottbus stand. Wo NSU-Anwälte ihre Kanzlei haben und wo immer noch Neonazi-Klamotten über den Ladentisch gehen. Ich will das nicht wissen, aber ich muss. Am Ende unserer Schnitzeljagd gibt es Kaffee und Kuchen und an den Diskussionen am Tisch kann man hören: Der Umgang mit der Geschichte ist kein leichter. Sie zu verleugnen, auszublenden, bringt aber rein gar nichts. Wenn wir uns bewusst damit auseinandersetzen wird sich so etwas nicht wiederholen. Hoffentlich.