Allgemein pool production

Spuren suchen, Ideen finden

17. Oktober 2016 |
26-ffc2016_jahrgangsmotiv_quer_4c-koffer

Die Fahrt ist nicht lang. Nur ein paar Kilometer hinter der Neiße beginnt so etwas wie meine DDR-Erinnerung. Klitzekleine Dörfer mit leeren Gehöften, teilweise sanierten Häusern und alten Höfen. Bunte Klettergerüste wie damals in unserer Straße. Veranden mit abblätternder Farbe. Treppen aus Beton. Zwei Stufen für die Katze zum Sonnen. Manchmal reichte das Geld für einen dieser Betonzäune, die hier in Polen neuerdings Trend zu sein scheinen. Aber ansonsten sieht alles so aus, wie in meinem Heimatdorf. In meiner Erinnerung. Als wäre man gar nicht in einem anderen Land.

Florian und ich sind nahe Brody unterwegs. Pförten heißt der Ort schon lang nicht mehr. Wir befinden uns auf so etwas wie einer Spurensuche. Die gleichnamige „Specials“-Sektion des diesjährigen Filmfestivals, für das wir beide arbeiten (in meinem Fall gehört hier ein Präteritum hin), inspirierte uns zu dieser Fahrt. Florian liest zudem gerade Beata Halickas „Polens Wilder Westen“, indem sie von den Social-Engeneering-Versuchen in den Nachkriegsjahren schreibt. Umsiedlungen von Deutschen hinter die neue Grenze und Umsiedlungen von Ostpolen in den neu gewonnen Westen. Traurige Geschichten und hier greifbare Vergangenheit. „Manchmal dauerte der Prozess der Umsiedlungen Jahre“, erklärt Floé. „Da haben Deutsche und Polen zusammen auf ein und dem selben Grundstück gelebt. Den einen gehörte es irgendwie nicht mehr und den anderen gehörte es nicht wirklich. Niemand wusste, was die Zukunft bringt. Völlige Unsicherheit über Jahre hinweg. Niemand konnte hier wirklich noch oder mehr ‚Heimat‘ sagen. Die Deutschen machten sich quasi unsichtbar. Immerhin waren das ihre Landsleute, die das ganze Leid des Krieges verursacht hatten.“ Ich versuche es mir vorzustellen. Es gelingt nur bedingt.
Wir sehen Verbindungen zu aktuellen Fernsehbildern und reden über die „Vertriebenen“ aus den verschwundenen Dörfern in der Lausitz. Wir philosophieren vor uns hin und suchen nach einer Idee. Uns ist klar, was das diesjährige Filmfestival-Plakat zum Thema haben soll: Die Sektion „Spuren suchen“ soll den Schicksalen der Opfer (und nur diese gab es in dem ganzen Prozess) nachspüren. Wie erinnert sich Polen an diese Zeit, an diese Menschen? Wie tut das Deutschland? Und wie geschah der Vorgang in Tschechien? Hochinteressante Fragen, finden wir. Immerhin entstammen auch unsere Familien dem ehemaligen Schlesien und viele in unserem Freundeskreis können ebenfalls von Familienerinnerungen erzählen. Bei mir sind sie verschwommen. Über so vieles wurde nicht geredet. Ein Uropa oder Ururopa wurde mal erwähnt, der aus dem jetzigen Polen loszog, aber nie im heutigen Deutschland ankam. Wie verpackt man solche Geschichten in einem Plakat, welches das ganze Festival abbilden soll? Wie hebt man diese so wichtige Sektion hervor ohne die anderen untergehen zu lassen? Wie wird es interessant und ästhetisch und provoziert trotzdem zum Nachdenken? Wie passt dieses Thema überhaupt in unsere Zeit? Oder passt es sogar zu gut in eine Zeit, in der wieder Hunderttausende, Millionen gar, vertrieben werden? Gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen? Wir denken gemeinsam daran herum, aber trotzdem obliegt es Florian, dem Art-Director, das Layout des Festivals zu erarbeiten.

spurensuchen-c-alex-schirmer-2

Wir machen noch einen Abstecher in die fernere Geschichte und halten am Schloss in Brody, in dem Heinrich Graf von Brühl im 18. Jahrhundert seine Gäste empfing. Hier endet gerade ein mehrtägiges Tango-Festival. Wir flanieren durch einen Park, dem der Branitzer Parkleiter Claudius Wecke seine Diplomarbeit widmete. Er polierte in mehreren Parkseminaren, also umfangreichen Arbeitseinsätzen mit vielen freiwilligen Helfern etwas des einstigen Glanzes auf. Dieses Stück sächsischer Geschichte befindet sich heute auf polnischem Boden. Hier wie da fehlt das Geld, es zu erhalten. Also ist nur mit Enthusiasmus solch eine Anstrengung zu unternehmen. Ich spreche Claudius, zum wiederholten Male, still meine Bewunderung aus.
Viel zum Denken gibt es hier. Man fühlt sich wie ein Ballon, der mit Eindrücken gefüllt wird. Perfekter Nährboden für Ideen. Zurück in Cottbus sitzen wir ein paar Tage später allein nach Feierabend im Büro in der Ebert-Straße. Wir sprechen über zeitgemäßes Grafik-Design. Klare Schriften, viel Platz und Dynamik. Wir suchen nach dem gemeinsamen Nenner. Bis wir auf etwas stoßen: Die Reise.
Man unternimmt sie freiwillig oder erzwungen. Fährt mit freudigen Erwartungen los oder lässt ein ganzes Leben, die Vergangenheit einer ganzen Familie, hinter sich zurück. Und Gepäck ist immer dabei. Ob die Reise erzwungen ist oder nicht. Man reist selten ohne ein Behältnis in das man sein wichtigstes Hab und Gut tun kann. Wir googlen uns durch Begriffe. Wie heißt dieses Papier-Band, das am Flughafen um den Koffergriff geklebt wird? Das kennt jeder- und es erinnert ausserdem an ein Eintrittsband zu einem Festival… Vielleicht ein Foto von einem Handgelenk? Nein, zu weit weg vom Thema. Wir stoßen auf den Begriff „Flight“ und dessen Doppeldeutigkeit. Denn FLIGHT übersetzt man neben „Flug“ auch mit „Flucht“. Da klingelt was.

Als mir Florian ein paar Tage später (und nach einer Fotosession mit einem Koffer und einem historischem Rucksack) die ersten Entwürfe zeigt bin ich begeistert. Gerade der Gepäckanhänger hat es mir angetan. Der Betrachter ist quasi dazu aufgefordert, seine Reiseroute nach Cottbus einzutragen. Er kann auch ankreuzen mit welchem Fortbewegungsmittel er kam: mit dem Zug, dem Flugzeug, dem Schiff, zu Fuß, mit dem Handwagen oder… mit dem Schlauchboot. Eine kleine gedankliche Backpfeife für jeden und jeder, der/die sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen. Als ich gerade vorschlagen will, die Namensschilder für die Festivalgäste nach diesem Vorbild zu drucken, zeigt Florian mir seinen Prototypen. Er hatte die selbe Idee. Zum Festival werden die Gäste und Besucher also genauer hinschauen müssen.